KONZERT
Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion mit den Augsburger Domsingknaben
in Ev. Heilig-Kreuz
Von Claus Lamey

Muss man eigentlich heute eine Bach-Passion immer noch genauso aufführen wie vor 50 oder 100 Jahren, das heißt konzertant, statuarisch, alle Sänger ständig aufs Publikum ausgerichtet, Vermittlung von Botschaft und Dramatik allein über Text und Musik? Oder gibt es nicht auch die Möglichkeit gestischer und mimischer Kontakte zwischen den Protagonisten der Leidensgeschichte, etwa beim Abendmahl oder beim Verhör Jesu vor dem Hohen Rat und Pilatus? Oder einen Chor, der das „Lass ihn kreuzigen“ mit entsprechender Gestik herausschreit? Die latente Dramatik würde sichtbar, das Stück würde da nicht nur einstudiert, sondern auch bis zu einem gewissen Grad inszeniert.

Es gibt vielversprechende Versuche in dieser Richtung. Aber sie bedeuten selbstverständlich nicht, dass die traditionelle Aufführungspraxis, wie sie Domkapellmeister Reinhard Kammler mit seinen Augsburger Domsingknaben auf seine spezielle Art vertritt und auch jetzt wieder in Ev. Heilig-Kreuz in Augsburg demonstrierte, ad acta gelegt werden müsste. Besonders wenn dieser Praxis so gar nichts Altbackenes anhaftet. Mit straffen Tempi, kräftig markierten Bass-Akzenten und eher rauher Klanglichkeit gleich im Eingangschor entspricht sie eher einer zeitgenössischen Klangsprache. Ebenso die Art, wie Kammler die Choräle in die Handlung einbindet: äußerst variantenreich im Ausdruck, immer der jeweiligen Situation angepasst, nie schematisch gleichförmig.

Der Chor, ob Doppelchor oder in Chor I/II geteilt: gewohnt präzise und durchschlagskräftig, zugleich durchsichtig und expressiv – und immer mit dem Silberglanz der Knabenstimmen. Die Sopran- und Alt-Arien von Knaben singen zu lassen, gehört auch zu Kammlers konsequent geübter Tradition. So sehr man hier die Frauenstimme als gleichgewichtigen Gegenpart zu Tenor und Bass vermissen mag: die jungen Sänger Julian Romanowsky, Samuel Winckhler, Moritz Blank (Sopran) und Valentin Wohlfarth, Peter Stoffels und Jack Crosby (Alt) beeindruckten durch ihre Sicherheit und bezauberten mit ihrer natürlichen Ausstrahlung.

Johannes Kammler, kraftvoller wie ausdrucksstarker Bariton, hatte mit dem wunderbaren Rezitativ und Arie „Am Abend, da es kühle war“ wesentlichen Anteil an der Friedensstimmung, die sich nach den Qualen von Jesu Tod über dem Schlussabschnitt der Passion ausbreitet. Gleiches gilt für Gerhard Werlitz als Evangelisten und Arien-Sänger, der neben zurückhaltender Berichterstattung auch zu Ausbrüchen des Zorns und tiefer Ergriffenheit bereit war. Matthias Winckhler (Bariton), vollgültiger „Ersatz“ für den indisponierten Johannes Martin Kränzle, sang einen jugendlichen Christus voll souveräner Ruhe.

Das Residenz-Kammerorchester München mit seinen zahlreichen exzellenten Solisten von der Violine über Oboe bis zum Violoncello möge sich hier mit einem Pauschallob zufriedengeben für seine gewohnt engagierte Mitwirkung bei einer bewegenden und zugleich beglückenden Wiedergabe dieses Gipfelwerks der Sakralmusik. Zuletzt minutenlanges Schweigen in der Abendsonnen-durchfluteten, voll besetzten Kirche, Glockengeläut, schließlich jubelnder Beifall.